21.7.22

Joachim Ringelnatz

 Meine ganz spezielle Ringelnatz-Seiten

Allerneueste Forschungsergebnisse (Teil 1)

Logik

Die Nacht war kalt und sternenklar,
da trieb im Meer bei Norderney
ein Suahelischnurrbarthaar.
Die nächste Schiffsuhr wies auf drei.

Mir scheint da mancherlei nicht klar,
man fragt doch, wenn man Logik hat,
was sucht ein Suahelihaar
denn nachts um drei am Kattegat?

Joachim Ringelnatz

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Das von Literaturwissenschaftlern bisher als rein fiktiv eingestufte Suahelischnurrbarthaar aus dem Gedicht „Logik“ von Joachim Ringelnatz wurde am Strand der Insel Norderney von mir bei einem Spaziergang entdeckt! 
Übersät mit in der Morgensonne glitzernden Wassertropfen lag es – zu einem Fragezeichen geringelt – auf einem flachen Stein. Dies könnte ein bedeutsamer Hinweis darauf sein, dass auch das Haar selbst nicht wusste, was es all die Jahre eigentlich im Meer zu suchen hatte. Eine Haar-Analyse ergab übrigens keine Drogenrückstände! So bleibt die Frage nach dem Motiv wohl für immer ein Geheimnis.
Logisches Denken ist sowieso nur selten der richtige Weg, um ein Rätsel zu lösen und kann, wie im vorliegenden Fall, sogar in die Irre führen. Ich bitte, diese Anmerkung aber keinesfalls als Kritik an der doch sehr verständlichen Neugier des von mir hochverehrten Dichters aufzufassen. 
Experten für Völkerkunde haben inzwischen die Echtheit des Fundes bestätigt und sein Alter auf etwa 100 Jahre festgesetzt!
Zur Zeit liegt das von dem weltbekannten Hairstylisten Alfredo Longo äußerst schonend gewaschene und geföhnte Prachtexemplar einbruchsicher in meinem Safe. Auf künftigen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig wird es einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert, bevor es dann bei SOTHEBY’S in London endgültig versteigert wird. Gebote können aber auch jetzt schon bei mir abgegeben werden!
Das Fundstück
 

Wehmütiger Kommentar einer von mir sehr geschätzten Dichterfreundin aus dem fernen Griechenland:

Suahelischnurrbarthaardichterschmerz

Ein Dichter aus dem Alten Land
Krabbelt in aller Herrgottsfrühe
Über der Nordsee feuchten Strand;
Lohnte sich diese Morgenmühe?

Gebettet zwischen Teer und Sand
Fand er ein schwarzes Schnurrbarthaar
Das sich dort ringelnatzend wand
Bebend vor der Flut Gefahr.

Glasklar hat der Poet erkannt,
dies Haar kommt aus vergangnen Tagen’
Er rettet’ es mit zarter Hand,
Es liebevoll nach Haus zu tragen.

Doch dann gewinnt die Oberhand
In des Finders Dichterdenken
Leider der praktische Verstand:
‚Ich habe doch nichts zu verschenken!’

Das Haar das er im Sande fand
Kommt ganz prosaisch unter’n Hammer:
Nun kriegt’s ein reicher Ignorant
Zu aller armen Dichter Jammer.

Copyright by Melitta Kessaris


Melitta Kessaris, ich und sicher auch Joachim Ringelnatz freuen sich über die nachstehenden Zeilen:

Hallo Fred,
war gerade googelnderweise in Sachen Suahelischnurrbarthaar unterwegs im Netz und bin dabei auf Deine Seite gestoßen.
Einfach genial, die Geschichte mit dem Haar, die Du da geschrieben hast. Was Melitta daraus gemacht hat, ist auch sehr beeindruckend.
Danke dafür und schöne Grüße aus dem Elsass.
Christian Schill
Christian-Schill@web.de


Hier einige Informationen, die ich meinen Besuchern nicht vorenthalten möchte:

Ursprüngliche Nachricht —
Von: „Frank Moebus“ <frank.moebus@phil.uni-goettingen.de
An: „Fred Lang“ <fred.lang@t-online.de
Betreff: Suahelischnurrbarthaar gefunden!
Haben Sie sehr herzlichen Dank, lieber Herr Lang!
Freilich muß ich Sie enttäuschen: Besagtes Suahelischnurrbarthaar befindet sich schon seit 1919 im Archiv der Familie des Dichters. Es ist dem Joachim-Ringelnatz-Museum qua testamentarischer Verpflichtung längst zugesichert worden; die dafür dann neu einzurichtende Flachvitrine wird die Cuxhavener Friseur-Innung stiften.
Mit großem Bedauern
Ihr Frank Möbus
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Mein Kommentar:
Der inzwischen verstorbene Professor Dr. Frank Möbus war Vorstandsmitglied der Joachim-Ringelnatz-Stiftung, die das Cuxhavener Ringelnatz-Museum begründet hat.
Sein rührender Versuch, in letzter Minute eine Versteigerung zu verhindern, ist aber kein hinreichender Grund einen Besuch dieser Seite nicht wärmstens zu empfehlen: http://www.ringelnatzstiftung.de/
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—–Ursprüngliche Nachricht—– 
Von: Uwe Wagner
Betreff: Suahelischnurrbarthaar
Sehr geehrter Herr Lang,
ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, dass dem auch von mir hochgeschätzten Dichter ein gravierender Fehler unterlaufen ist? Ich führe ihn (den Fehler) jedoch unter der Rubrik „dichterische Freiheit“.
Ringelnatz hat den Schwimmort des Suahelihaares in das Meer bei Norderney gelegt, eine Insel der Nordfriesischen Inseln in der südlichen NORDsee. Das Kattegatt hingegen liegt auf der Westseite von Dänemark, somit im nördlichen Teil der OSTsee.
Mit freundlichen Grüßen
Uwe Wagner
54°13’38“N 09°30’44“E
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Mein Kommentar:
Sehr geehrter Herr Wagner,
bitte entschuldigen Sie meine etwas verspätete Antwort auf Ihren Hinweis, den ich mit großem Interesse gelesen habe und für den ich mich herzlich bedanken möchte. 
Ich war wieder einmal im Urlaub in Dänemark (Skagen). Diesmal habe ich allerdings nichts gefunden, was auch nur im Entferntesten mit Joachim Ringelnatz in Verbindung gebracht werden könnte. Die Mülltonne am Strand, in der ich den von aller Welt ja verloren geglaubten Bumerang entsorgt hatte, war übrigens leer. Inzwischen bedaure ich meine doch etwas allzu spontane Handlungsweise. Aber sie ist nun mal nicht mehr rückgängig zu machen und ich muss damit leben.
Nun zu Ihrer Frage. Nein, mir ist dieser gravierende Fehler bisher nicht aufgefallen, und wenn Sie gestatten, werde ich Ihre absolut zutreffende Richtigstellung auf meiner speziellen Ringelnatz-Seite veröffentlichen. 
Ich denke im Übrigen, dass damit dem Andenken an den von uns nach wie vor hochgeschätzten Dichter keinerlei Schaden zugefügt wird. Sollten Sie trotzdem Bedenken haben, so bitte ich um eine kurze Nachricht. 
Mit freundlichem Gruß
Fred Lang
—–
Ursprüngliche Nachricht
Von: Franz Kimmel
Betreff: Das Zankapfel-Schnurrbarthaar
Verehrter Herr Lang,
angeregt durch ein Thema im Yachtforum, wo fragwürdige Dichter Wüstes von sich geben, habe ich nach dem Suahelischnurrbarthaar in der Kattegattsuppe gesucht und den Beitrag des aufmerksamen Herr Wagner gefunden.
Dazu möchte ich als kleinkarierter Segler, dem eine fehlerfreie Navigation ein Anliegen ist, dem Zeigefinger hebenden Herrn Wagner zurufen: Wer im geogrphischen Glashaus sitzt, soll nicht mit Schnurrbarthaaren werfen.
Norderney ist eine Ostfriesische Insel und das Kattegatt liegt auf der Ostseite von Dänemark. außerdem gehört das Kattegatt nicht zur Ostsee, auch nicht zum nördlichen Teil. Aber sonst ist alles richtig.
Außerdem werde ich auf der nächsten Reise die Suche nach dem Haar einstellen, da ich ja auf Ihrer Seite erfahren habe, dass das Haar bereits ins Trockene gebracht wurde.
Mit freundlichen Grüßen
Franz Kimmel
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Mein Kommentar:
Lieber Herr Kimmel,
vielen Dank für Ihre humorvolle Klarstellung des Sachverhalts.
Demnach steht also fest, dass Joachim Ringelnatz von seinem Recht auf dichterische Freiheit Gebrauch gemacht und die Ostfriesische Insel Norderney – vielleicht auch, weil es sich mit „hat“ gut reimt – kurzerhand ins Kattegat verschoben hat.
Nachstehend noch eine ergänzende Information:
„Norderney (Ostfriesisches Plattdeutsch: Nördernee) ist eine der Ostfriesischen Inseln im Nordwesten Deutschlands, die dem Festland des Bundeslandes Niedersachsen zwischen der Ems- und Wesermündung in der Deutschen Bucht vorgelagert sind.“
„Das Kattegat (niederländisch: „Katzenloch“, dänische Aussprache [?kad?gad]) ist das 22.000 km² große Meeresgebiet zwischen Jütland (Dänemark) und der schwedischen Westküste. Bei Skagen grenzt es an das Skagerrak.“
Quelle: Wikipedia
Im Übrigen freue ich mich, dass ich Ihnen durch die öffentliche Bekanntgabe meines Fundes eine mühevolle und vergebliche Suche ersparen konnte.
Mit freundlichem Gruß
Fred Lang
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Allerneueste Forschungsergebnisse (Teil 2)

Bumerang

War einmal ein Bumerang
War ein Weniges zu lang.

Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.

Publikum – noch stundenlang –
Wartete auf Bumerang.
Joachim Ringelnatz

Zwischen Skagerrak und Kattegat, an der Nordspitze Dänemarks, liegt die schmale Halbinsel Grenen. Hier prallen die Wellen von Nord- und Ostsee bei den dort oft herrschenden starken Winden mit großer Wucht aufeinander und auch die starke Strömung ist äußerst gefährlich. Eine Wattlandschaft in ständigem Wechsel: mal Land, mal Wasser.


Sensationeller Fund!


Als Landeplatz für den verschwundenen Bumerang aus dem gleichnamigen Gedicht von Joachim Ringelnatz ist diese geheimnisvolle und unwirklich anmutende Gegend wie geschaffen. Und immerhin bis hierher ist das um „ein Weniges zu lang“ geratene Wurfgeschoss geflogen. Jetzt wird auch klar, warum seine Rückkehr zum Ausgangspunkt seinerzeit nicht möglich war. 
Die schon damals hier herrschenden – fast immer äußerst ungünstigen – Wetterverhältnisse waren sicher die Ursache des Absturzes, und durch die große Wucht des Aufpralls drang der Bumerang tief in den Boden ein. 
Im Laufe der Zeit hatte sich zusätzlich eine dicke Schicht aus Sand und Geröll über dem Wurfgerät gebildet. Anscheinend ist sie erst vor kurzem durch eine sehr starke Gegenströmung wieder weggeschwemmt worden – was schließlich dann auch zu seiner Entdeckung geführt hat.
Dass es sich bei meinem Fund um den vor vielen, vielen Jahren auf die Reise gegangenen Bumerang handelt, steht für mich zweifelsfrei fest. Eine abschließende Begutachtung durch den bekannten Ringelnatzexperten Prof. Dr. Frank Möbus (Ehemaliges Vorstandsmitglied der Joachim-Ringelnatz-Stiftung) musste jedoch leider unterbleiben. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich nämlich entschlossen, den für die literarische Welt gewiss sehr bedeutsamen Fund nicht der Öffentlichkeit zu übergeben, sondern ihn an Ort und Stelle zu entsorgen. Vor allem aber auch, um internationalen Verwicklungen vorzubeugen. 
Die Dänen sind auch über 70 Jahre nach dem Ende der Besatzungszeit nämlich immer noch mit Recht etwas empfindlich im Hinblick auf Geschosse und andere Kriegserinnerungen. Ein halb im Sand versunkener Betonbunker in unmittelbarer Nähe des Bumerang-Aufschlags kündet noch heute von der großen strategischen Bedeutung des Ortes zwischen Nord- und Ostsee.
Warum der Bumerang genau hier zu Boden ging, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Vielleicht wollte ja der Dichter schon damals unsere nördlichen Nachbarn durch den Wurf des Bumerangs vorwarnen. Ein nicht ganz von der Hand zu weisender Gedanke!
Ich hoffe, dass dieser interessante Aspekt vor allem von Professoren und Studenten der Literaturwissenschaft gebührend beachtet und in Kommentaren und gelehrten Abhandlungen entsprechend gewürdigt wird.
Gewisse Anwürfe in Verbindung mit der öffentlichen Versteigerung des von mir seinerzeit am Strand von Norderney gefundenen Suahelischnurrbarthaares, aber auch die bisher enttäuschend geringe Höhe des aktuellen Gebotes in Höhe von nur 47,11 Euro, erleichterten mir außerdem den Entschluss, meinen Fund ohne allzu große Gewissensbisse in die nördlichste Mülltonne Dänemarks zu werfen. Die Dänen mögen ihre schönen Strände gerne sauber!

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Kommentar einer von mir sehr geschätzten Dichterfreundin aus dem fernen Griechenland:

Wühlzwang

Ein gewisser Dichter Lang
Hat einen sonderbaren Hang
Zum Wühlen in des Wattes Tang.

Er folgte seinem Stöberdrang
Und fand dort einen Bumerang:
Jedoch ein weniges zu lang.

Den dichterischen Überschwang
Er nur mit Mühe niederzwang;
Entsorgte ohne Sang und Klang
Ringelnatzens Bumerang.

Copyright by Melitta Kessaris
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Hier eine gelungene Variante meines Dichterfreundes Werner Fritz aus dem nicht ganz so weit entfernten Bayern:

War einmal ein Bumerang,
war nicht zu kurz und nicht zu lang.

Bumerang flog ein Stück,
kam zurück – traf mein Genick!

Im Himmel schimpfte ich noch lang
auf den blöden Bumerang.

Copyright by Werner Fritz
werner.fritz@t-online.de

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Und noch eine schöne Variante:

Der Ringelnatz

 
Joachim wurd‘ die Zeit zu lang,
da warf er einen Bumerang.

Bumerang nicht faul,
flog Ringelnatz aufs Maul.

Ringelnatz noch stundenlang
dacht‘ an diesen Bumerang!
 
Winfried Gorny – sehr frei nach Ringelnatz.
bumerang.projekt@t-online.de

Zum Schluss noch der Beitrag einer Expertin für Sinnliches: Beatrice von Stein.

BUMERANG
-gefunden-

Genau betrachtet finde ich
er ist nicht zu lang für mich.

Und er bereitet mir viel Glück
drum geb’ ich ihn auch nicht zurück.

Denn schließlich hat mein Bumerang
einen Mann – hintendran!

 ©BvS

12.7.22

Jugend. Wo bist du geblieben?


Alamy Stock Fotos (Lizenz Re.-Nr.: IY01568325)

"Gebt mir eine Chance, beim nächsten Mal klappt's bestimmt besser.
Bitte, bitte, bittee, bitteeee ..."

9.7.22

Kalte Wangen, heiße Zangen

 



Die etwas andere Art der Goldgewinnung.

An diesem nebligen und nasskalten Novembertag waren es 74 Jahre, 9 Monate und 27 Tage her, dass ein besonders energischer Samenfaden eines menschlichen Männchens sich in die eher passive Eizelle eines Weibchens bohrte. Nach kurzer Zeit verursachte dieser „Überfall“ eine enorme Zellteilung, die ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss heute vor genau 74 Jahren durch eine so genannte Zangengeburt erreichte. Von diesem so praktischen Instrument wird auch gegen Ende dieser kleinen Geschichte noch einmal berichtet, dann allerdings von erheblich schmerzhafteren Begleitumständen für den Betroffenen.
Das Produkt all dieser Bemühungen, Johann K., lag auf der Krankenstation eines jener Altenheime, in denen vorwiegend nach der Devise: "Sauber, satt und still" im Umgang mit den bedauernswerten Insassen gehandelt wird. Herr K. hatte von Nachtschwester Ingeborg als Geburtstagsgeschenk eine Morphiumspritze bekommen und dämmerte nun relativ ruhig vor sich hin. Sein baldiger Abschied von einer Welt, in der er sich nie so recht wohl gefühlt hatte, stand unmittelbar bevor. Die ehemaligen Eigentümer jenes so eifrigen Samenfadens und der eher passiven Eizelle hatten schon vor längerer Zeit ihre Produktion eingestellt und waren bald darauf gestorben. Herr K. hatte gelegentlich versucht, seine Samenproduktion anzukurbeln, war damit aber bei den Eizellen erfolglos geblieben.


Heute stand bzw. lag er ganz allein in einer Welt, die auch nicht eine Sekunde aus dem Takt geriet, als er sich am Nachmittag, satt und still, aber nicht ganz sauber, auf seine letzte Reise begab. Sie war nicht sonderlich weit und führte zunächst in einen Abstellraum am Ende des Flures. Lernschwester Lisa hatte den soeben Verblichenen dort abgestellt und das Fenster weit geöffnet, da sie in Bezug auf bestimmte Gerüche immer noch etwas empfindlich reagierte. Im Übrigen war sie die Einzige, die nun so etwas wie Bedauern empfand. Hatte doch der jetzt so starre Leib vor nicht allzu langer Zeit unter ihren geschickten Händen gewisse Wohltaten erfahren. Diese führten, besonders bei einem bestimmten Körperteil, zu beeindruckenden Zuckungen, ja sogar manchmal zu einer erstaunlichen Höhe und Festigkeit!
Diese für beide Seiten so angenehme Beziehung war nun leider unwiderruflich beendet und sie hatte jetzt ein Problem. Es gab da einen sehr agilen Herrn, mittlerweile schon in den "Neunzigern", der aber bei weitem nicht so großzügig war wie der verstorbene Herr K. Dieser Herr S. hatte ihr sogar mit einer Anzeige gedroht, wenn sie sich nicht auf einen Rabatt einlassen würde. Außerdem stellte er in maßloser Selbstüberschätzung perverse Forderungen, die über ihre übliche „Handarbeit“ sehr hinausgingen.
All diesen so menschlichen Überlegungen weit entrückt wurde der soeben Verblichene einer flüchtigen Untersuchung unterzogen und man bestimmte eine Kühlkammer im Keller zu seinem nächsten, allerdings nur befristeten Aufenthalt. Hierher verirrten sich nur selten Heimbewohner. Und wenn es doch einmal geschah, wurden sie von Heinz, dem Hausmeister, schnell wieder in ihre fast genauso ungemütlichen „Wartezimmer“ in den oberen Stockwerken geleitet. War ihre Zeit endgültig abgelaufen, wurden sie, diesmal aber in liegender Haltung, wieder von ihm hierher zurückgebracht.
Heinz war ein richtiger Tausendsassa. Er übte seinen Job schon lange Zeit aus und er war sehr erfinderisch, wenn es darum ging, sein nicht gerade fürstliches Gehalt aufzubessern. Seine derzeitige Freundin Lisa versorgte ihn mit präzisen und wichtigen Informationen über seine kühlen Gäste. Wenn jemand, wie z.B. unser Herr K., keine Angehörigen hatte und ein spurloses Ende im Verbrennungsofen bevorstand, ging er folgendermaßen vor.
Zunächst wurde dem Toten eine Art Maulsperre verpasst. Sie war seine eigene Erfindung und erlaubte ein weitgehend unbeschränktes Hantieren mit einer speziellen Zange, die er für 51 Euro, incl. Mehrwertsteuer, über den einschlägigen Versandhandel erworben hatte. Die so fixierte Mundhöhle war dann weit geöffnet und im Schein einer billigen Taschenlampe konnte er ohne große Mühe das sehen, wonach er suchte. Der Rest war für den routinierten Leichenfledderer eine Kleinigkeit. Mit einer eleganten Drehung und gleichzeitigem Zug seiner Zange beförderte er so mehrere Goldzähne in einen kleinen Eimer. Das wurde jedesmal von einem zunächst knirschenden Geräusch, gefolgt von einem hellen Klingelton, begleitet. Dies war Musik in den Ohren des Hausmeisters und im Laufe der Zeit hatte er sich auf diese Weise einen schönen Vorrat an Zahngold verschafft. Die Idee zu seinem Nebenerwerb war ihm übrigens beim Besuch einer Holocaust-Ausstellung gekommen. Dort wurde anschaulich berichtet, wie die Schergen Hitlers diese Art von Goldgewinnung im großen Stil und mit staatlicher Billigung in den Konzentrationslagern betrieben hatten; wobei die Häftlinge zu dieser makabren Arbeit allerdings gezwungen wurden.
Heute war Heinz nicht ganz bei der Sache und er hatte Schwierigkeiten mit dem letzten Goldzahn, dem offenbar nicht daran gelegen war sich auf so brutale Weise von seinem angestammten Platz entfernen zu lassen. Schon mehrfach war die Zange abgerutscht und hatte dabei hässlich aussehende Spuren in der Mundhöhle verursacht. Der Fledderer bemerkte übrigens nicht, dass die vormals wächserne Gesichtsfarbe des Toten inzwischen einen frischen, rosafarbenen Ton bekommen hatte und der Körper sich leicht aufbäumte. Schwitzend und mit hochrotem Gesicht unternahm er einen letzten Versuch, diesen hartnäckigen Widerstand zu brechen. Die Fingerknöchel seiner gewaltigen Faust schimmerten weiß und die Adern traten deutlich hervor. Mit einem gewaltigen Ruck, verbunden mit einer diesmal nicht so eleganten Drehung, hatte er endlich Erfolg.
Was nun geschah, wird von Ohren- und Augenzeugen wie folgt beschrieben. Demnach soll ein gellender, nicht enden wollender Schrei auch den letzten Heimbewohner aufgeschreckt haben. Den herbeigelaufenen Insassen bot sich ein gespenstisches Bild. Johann K. stand hoch aufgerichtet in seinem viel zu langen Totenhemd vor seinem Bett. Die Maulsperre hatte seinen Mund, aus dem jetzt nur noch krächzende Laute kamen, unnatürlich weit geöffnet, was die grauenvolle Wirkung auf die Anwesenden noch erhöhte. Mit anklagender Gebärde zeigte er auf seinen Peiniger, der am Boden lag und dessen Gesicht inzwischen eine gelblich wächserne Färbung angenommen hatte.
Dem im wahrsten Sinn des Wortes wieder Auferstandenen war offenbar völlig gleichgültig, dass er nun zum zweiten Mal einer Zange sein Leben verdankte. Er wollte es nicht mehr.

Copyright by Fred Lang

1.7.22

Von Tauben, Falken und Granaten

 

Selbstreproduzierende Kleinflugkörper. Horror-Vision einer neuen Wunderwaffe.

Ausgerechnet die Brieftaube, seit urdenklichen Zeiten ein Symbol des Friedens und der Liebe, soll in naher Zukunft zu militärischen Zwecken eingesetzt werden. Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zu hören ist, plant ein Staat, der in Bezug auf die Anwendung von Massenvernichtungswaffen zur Durchsetzung seiner Machtansprüche noch nie Skrupel gekannt hat, künftig in großem Stil den Einsatz von Brieftauben. Hinter vorgehaltener Hand wird von zunächst eintausend so genannten "Kleinkalibrigen Marschflugkörpern" gemunkelt. Oder KM, wie es im Militärjargon knapp und bündig heißt.
Normalerweise kehren Brieftauben nach ihren Ausflügen immer zu ihren heimischen Verschlägen zurück. Fieberhaft wird nun in geheimen Forschungslabors daran gearbeitet, dieses Verhalten zu eliminieren, weil aus bestimmten Gründen eine Rückkehr nicht wünschenswert ist und im Falle einer Zündverzögerung fatale Folgen für die eigenen Streitkräfte zu erwarten wären. Extrahierte und entsprechend aufbereitete Gene japanischer Kamikaze-Piloten, die sich im Zweiten Weltkrieg in selbstmörderischer Absicht auf amerikanische Kriegsschiffe stürzten, sollen übrigens bei der Züchtung dieser neuen Wunderwaffe eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Ein Kampfverband von entsprechend programmierten Vögeln soll nämlich bald in der Lage sein, militärische und zivile Ziele auszuspionieren, anzugreifen und zu vernichten. Nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir stark!“, schließen sich die Tiere kurz vor dem Ziel eng zusammen und nach einem Sturzflug aus geringer Höhe ist alles vorbei. Vorher hat eine sogenannte „fliegende Vorhut“, die eine spezielle Ausbildung erhielt, eine genaue Zielansprache, bzw. Zielerkennung ermöglicht. Pro KM reichen ja nur wenige Gramm Nitroglyzerin oder einige Tropfen der neuesten Nervengifte völlig aus. Sie befinden sich in speziellen Kapseln am Körper der tierischen Bomber. Beim Aufprall im Zielgebiet verstreuen sie augenblicklich ihren Tod und Verderben bringenden furchbaren Inhalt.
Aus militärischer Sicht liegen die Vorteile der neuen Waffe allerdings klar auf der Hand. Die Betriebskosten pro KM sind äußerst gering. An Verpflegung reichen etwa 35 Gramm Körnerfutter pro Tag völlig aus. Kosten, z.B. für Uniformen und Sold, entfallen natürlich. Weitere Vorteile, die für ihren Einsatz sprechen: Eine Ortung durch gegnerisches Radar ist nicht möglich. Es gibt auch keine Befehlsverweigerungen. Verluste werden leicht durch Neuzugänge aus Massenzucht ersetzt, da voll taugliche Tiere im Gegensatz zu menschlichen Soldaten schon in wenigen Monaten zum Einsatz gebracht werden können - als selbstreproduzierende Kleinflugkörper im wahrsten Sinn des Wortes! Im Vergleich zu ihren Waffenbrüdern, den hinreichend bekannten so genannten Großkalibrigen Marschflugkörpern, wie z.B. Raketen, ist daher bei einem Einsatz der KM von phänomenal niedrigen Stück- und Betriebskosten auszugehen.
Doch es gibt keine Angriffswaffe, die nicht in kurzer Zeit durch eine entsprechende Verteidigung neutralisiert wird. Ausgerechnet der Falke, seit urdenklichen Zeiten ein Symbol für kriegerisches Verhalten und ein von den Tauben schon immer gefürchteter Feind, soll in Zukunft als "Leichter Kleinflugkörper", kurz LK genannt, zum Einsatz kommen. Da bei einem Falken keine komplizierten und aufwendigen Umprogrammierungen nötig sind - er darf einfach so sein, wie er ist - kann schon bald seine Produktion auf eine zur erfolgreichen Abwehr der KM unbedingt erforderliche Höhe gefahren werden. Man spricht fürs erste von fünfhundert LK. Allerdings sind bei ihnen die zu erwartenden Stück- und Betriebskosten etwas höher zu veranschlagen. Falken fressen mehr und sind auch bei der Aufzucht ihrer Jungen etwas eigensinnig. Im Hinblick auf den Jagderfolg ist dies aber als zweitrangig anzusehen; zumal für einen Falken die Eliminierung von 4 bis 5 Tauben schon in der Luft - weit vor dem Angriffsziel - kein Problem bedeutet. Einschlägige Erfahrungen liegen bereits vor, und wunderschöne Videoaufzeichnungen belegen eindrucksvoll die Leistungskraft und elegante Kampfweise dieser „Ritter der Lüfte“.
Ein kleines Problem am Rande ist allerdings noch nicht befriedigend gelöst. Die sorglose Entsorgung der nicht zum Einsatz gekommenen oder verirrten kleinkalibrigen Marschflugkörper mit ihren todbringenden Kapseln ist noch nicht gewährleistet. Doch in Bezug auf den Schutz der Umwelt wurde schon immer gesündigt und auch Militärs machen sich nur selten über die Folgen ihrer Taten Gedanken.
Für den schon erwähnten Staat wäre das alles natürlich auch ein Verkaufsschlager ersten Ranges, der aber im Hinblick auf die Erhaltung eines „Gleichgewichts des Schreckens“ immer nur im Doppelpack angeboten werden sollte!