13.6.24

Besuch einer Zelle im menschlichen Körper

EINLEITUNG
 
Sehr geehrter Herr Lang,
die angehängte Geschichte ist meine erste und wird auch meine letzte sein. Es war eine ziemlich spontane Idee und ich dachte, das würde mit drei Seiten erledigt sein. Aber dann wurde es eine richtige Arbeit. Wie aus dem Text hervorgeht, sind einige Begriffe der Molekularbiologie und der Quantenmechanik entnommen. Dabei habe ich, um die Sache etwas humoristisch aufzulockern, einige Begriffe mehr oder weniger zweckentfremdet eingesetzt. Man muss auch nicht alles verstehen. Ich möchte dem Leser nur nahe bringen, wie unglaublich kompliziert das Leben aufgebaut ist. Und darum habe ich oft bis an die Grenze der Ungenauigkeit vereinfacht. Namen, Begriffe, Daten, Größenbeschreibungen und Zahlen stimmen aber alle. Ich hatte Zeit und eine Idee. Es hat mir Spaß gemacht!
Mit freundlichen Grüßen
Ernst Selle

__________________________________________________________________


Besuch einer Zelle im menschlichen Körper - eine fantastische Geschichte

Ich befinde mich in der Arterie eines Menschen, wo mich das strömende Blut langsam zu einem unbekannten Ort befördert. Meine Mission ist, eine Körperzelle zu besuchen und einen Bericht darüber zu schreiben. Während mich der Blutstrom langsam meinem Ziel entgegen trägt, habe ich nun Zeit, etwas über die Vorgeschichte zu berichten. Wie kam es also dazu?
Vor einiger Zeit erhielt ich vom Leiter eines angesehenen Forschungsinstituts einen Anruf mit der Bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu besuchen. Dort wurde mir eröffnet, zur Erprobung einer epochalen Neuentwicklung suche man einen geeigneten Mann, den sie jetzt nach gründlichen Nachforschungen in meiner Person gefunden hätten. Die ganze Angelegenheit sei allerdings streng geheim.
Nach meiner Zustimmung wurde mir erklärt, sie hätten mit Hilfe der Molekularbiologie nach vielen Versuchen und durch Verbesserung der beim Beamen entwickelten Technik (Raumschiff Enterprise) eine Methode entwickelt, Menschen zu verkleinern und biologisch so zu verändern, dass sie in einem völlig anderen Biotop lange Zeit bei voller Aktionsfähigkeit überleben können. Bei ihren Forschungsarbeiten mussten sie auch Erkenntnisse der Quantentheorie beachten, und dabei wären ihnen in zwei Bereichen bahnbrechende Durchbrüche gelungen. Da sich fast alles im atomaren Bereich abspielt, machte hier besonders Heisenbergs Unschärferelation bei der Risikominimierung am Anfang große Schwierigkeiten. Aber sie konnten alle diese Probleme lösen, wobei die Erkenntnisse, die der Physiker Erwin Schrödinger in dem als Meisterwerk bekannten Buch „Was ist Leben“ schon 1944 niedergelegt hatte, eine große Hilfe für sie waren. In unzähligen Versuchen, zuletzt mit Menschenaffen, sei die Anlage nun getestet worden und jetzt könne eine 99,99% Sicherheit für eine gesunde Rückkehr garantiert werden.
Nach ein paar Tagen privater Vorbereitungen siedelte ich in das Institut um. Hier war die Zeit ausgefüllt mit Spezialtraining, verbunden mit Verhaltensinstruktionen und Ähnlichem. Ich musste mich unter anderem auch mit dem Umgang eines extra für diesen Zweck entwickelten Diktiergerätes vertraut machen, das auf die Brust geschnallt wird und das ich jetzt benutze. Außerdem bekam ich eine Brille. Sie verändert nicht die normale Sehfähigkeit, zieht aber sehr schnelle Abläufe kurzzeitig so weit auseinander, dass sie von mir erkannt werden können. Auch die Entwicklung dieser Brille wurde unter strengster Geheimhaltung durchgeführt. In ihren etwas vergrößerten Bügeln befinden sich hochleistungsfähige Computer. Es wurde ein Programm installiert, in dem u.a. auch letzte Erkenntnisse der Quantentheorie (zum Beispiel der Bell-Test) wohl zum ersten Mal für die Praxis genutzt werden können. Das Programm wurde im Normalzustand getestet und arbeitete einwandfrei. Wie es in der Zelle funktioniert bleibt abzuwarten. Zum Schluss lande ich in einer so genannten "Minimierkabine".
Und jetzt - auf ein Hunderttausendstel meiner natürlichen Größe verkleinert - schwimme ich in einer Arterie, die nach etlichen Abzweigungen merklich enger geworden ist. Um mich herum die verschiedensten Gebilde, einige in größerer Anzahl, andere weniger zahlreich. Wenn ich wieder draußen bin, werde ich mir mal die Kopie mit meinem letzten Blutbild genauer anschauen. Übrigens bin ich immer noch in der nach mehreren weiteren Wechseln in Seitenarme noch enger gewordene Arterie und nähere mich meinem Bestimmungsort, einer  Zelle. Hier zieht mich etwas aus der Arterie. Es ist ein wirres Gebilde, das mich entfernt an ein Knäuel aus dickem Stacheldraht erinnert, das mich hier freundlich empfängt und sich als Enzym "XY" vorstellt. XY wird mich durch die Zelle begleiten. Zuerst bekomme ich von ihm ein paar eigenartig geformte Stiefel, die ich mir über meine Schuhe streife. Ich gebe ihm das Zweitmikrofon des Diktiergerätes, das er sofort in seinem Inneren verschwinden lässt. Ich schaue mich um und sehe viele ähnliche, aber noch kleinere Knäuel, die blitzschnell verschiedenartige Dinge aus der Arterie ziehen und sie ebenso schnell an ein anderes Knäuel ins Innere der Zelle weiter geben, sowie andere Knäuel, die etwas entgegennehmen und in die Arterie stecken. XY erklärt mir dazu, das hier sei die Materialannahme mit Entsorgungsabteilung und die Atomknäuel, alles Enzyme, seien das Personal. Dazu aber später mehr.
Leider hat meine Brille zwei lästige Eigenheiten. ich sehe teilweise unscharf, denn sie muss sehr kleine Wellenlängen in für mich sichtbares Licht umsetzen. Das wurde zwar oben berechnet, konnte aber dort nicht erprobt werden. Nun kann ich zwar alles sehen, aber kleinere Sachen schlecht erkennen. Auch der zweite Effekt ist systembedingt. Die Brille zieht kurze Zeitabläufe auseinander, wodurch schnelle Bewegungen erkennbar werden. Dadurch geht natürlich Zeit verloren, Zeit, die nur durch Vorspringen wieder eingeholt werden kann. Es ist wie in einem Kinofilm, in dem der Projektor defekt ist. Etwa fünf Sekunden, bei dem ich alles wie mit einem Zeitraffer sehen kann, dann ein Sprung in ein Bild, dem man ansieht, dass inzwischen eine gewisse Zeit vergangen ist. Ich habe es gewusst, aber jetzt ist es trotzdem lästig. Doch ich werde mich daran gewöhnen und das Beste daraus machen.
Sofort beim Betreten der Zelle fällt mir auf, dass sie mit einer etwas schleimigen Flüssigkeit gefüllt ist, durch die ich mich dank der neuen Schuhbekleidung einigermaßen bewegen kann. Aber XY will mir nun einen längeren Vortrag halten:
„Unsere Zelle ist eine autonome Firma, die als Subunternehmer für ein gewaltiges Imperium arbeitet. Das Imperium nennt sich Mensch. Unsere einzige Aufgabe ist es, eine spezielle Flüssigkeit zu produzieren und nach Abruf die gewünschte Menge davon bei der Arterie abzuliefern. Alles andere machen wir eigenständig. Die für die Erhaltung der Zelle notwendigen Wartungs- und Reparaturarbeiten werden alle intern erledigt. Darin eingeschlossen ist auch der Selbstbau von Ersatzteilen. Die dafür notwendigen Halbzeuge und Rohstoffe werden am Wareneingang aus dem Blutstrom abgerufen. Für die Beseitigung der Abfälle befindet sich dort auch unsere Entsorgungsabteilung. Sie haben es ja beim Empfang schon gesehen. Unsere Zelle befindet sich in einem sehr großen Industriegebiet, das sich Organ nennt. Es unterteilt sich in mehrere sehr verschieden große Untergebiete mit zum Teil andersartigen aber einander vollkommen gleichen Zellen. Die Zellen in den Untergebieten sind alle durch Leitungen, Nerven genannt, verbunden, und sie erhalten alle immer gleichzeitig die gleichen Informationen. So sind auch wir mit den anderen Firmen in unserem Untergebiet verbunden und haben immer eine Stand-by-Leitung zur Hauptzentrale. Bei uns beschränken sich die Informationen hauptsächlich auf Lieferanforderungen.“
XY macht einen Augenblick Pause, aber er will noch mehr sagen: „Wichtig! Ich redete von gewaltig, sehr groß und verschieden groß. Aber für uns ist alles unermesslich groß, weil auch schon kleine Einheiten aus sehr vielen Zellen bestehen. Bei Ihnen draußen kommen diese großen Zahlen im täglichen Leben praktisch nie vor“. Alles außerhalb des Menschen ist für XY „draußen“. Er will noch mehr erklären: „Das Imperium besteht aus noch einigen anderen Organen und weiteren Bestandteilen mit den verschiedensten Aufgaben. Sie alle werden von der Hauptzentrale gesteuert. Die Grenze dieses Imperiums nennt sich Haut.“ Mehr weiß er nicht; anscheinend gibt sein Programm nicht mehr her. Nach den vielen ungewohnten Eindrücken seit Beginn meiner Reise in den Körper komme ich erst jetzt richtig zur Besinnung und schaue mich genau um. Unser erstes Ziel ist der Zellkern, XY nennt ihn Zentrale. Überall um uns herum herrscht reges Treiben. Die Zelle brodelt förmlich vor Geschäftigkeit. Viele Kolonnen von Enzymen sind anscheinend da0mit beschäftigt, verschiedenartige Dinge anzunehmen und sofort weiter zu geben. Es sind viele kleine aber auch größere Teile, lange und dünne, wie aus aneinander gekuppelten, unterschiedlich geformten länglichen Stücken gefertigt. Sie alle werden zu einem mir unbekannten Ort transportiert. Dabei bleiben die meisten Enzyme am Ihrem Platz. Sie geben anscheinend nur an die nächste Station weiter, wie eine Eimerkette bei einem Brand. Die Enzymknäuel sind sehr locker gefügt und unterschiedlich groß, etwa 20 bis 40 cm. Nur XY macht eine Ausnahme. Er geht mir fast zu den Schultern und ist fest gewickelt. Warum, will er mir bald erklären. Ich schaue ihn mir an und versuche Genaueres zu erkennen, aber die Unschärfe der Brille macht alles schwierig. Der Eindruck des Drahtverhaus entsteht, weil eigenartige längliche Teile unterschiedlicher Form nacheinander verdreht und gebogen aus der Entfernung scheinbar spitz aus den Knäueln herausragen. Aus sehr kurzer Entfernung kann ich erkennen, dass sie aus etwa 1 cm großen Kugeln bestehen, die aneinander geklebt sind und so den Teilen ihre Form geben. Die Teile sind unterschiedlich groß. Ich schätze zwischen zehn bis dreißig Kugeln. Die Kugeln haben einen leichten  Glanz, sind verschieden gefärbt und scheinen unaufhörlich leicht zu zittern und dabei etwas zu pulsieren. Dadurch zittert hier anscheinend alles, auch XY. Er hilft mir: „Das hier ist ein Aminosäuremolekül und es wird uns als Halbzeug geliefert, und die Kugeln sind Atome. Durch Ihre Brille können Sie die verschiedenen Elemente an ihren Farben und etwas unterschiedlichen Größen erkennen“. Er zeigt auf ein Atom mit einem etwas kräftigeren Gelbschimmer: „Das hier zum Beispiel ist ein Natriumatom, Sie können es leicht von den anderen unterscheiden. Das Zittern ist übrigens temperaturabhängig. Je wärmer es ist, desto stärker das Zittern“.
Das hier sind also Atome. Und jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ich bin ja auf ein Hunderttausendstel meiner natürlichen Größe verkleinert worden. Nur in dieser Größe kann ich mich hier einigermaßen zurechtfinden. Ich schaue an mir herunter. Alles ist wie immer. Keine Spur von sichtbaren Atomen. Dann haben es die Physiker im Institut also geschafft, mich samt meiner Atome zu verkleinern! Das also ist die Sensation, die sie mir im Institut angedeutet haben.
Wenn ich gesund wieder oben bin und die Ergebnisse veröffentlicht werden, wird das die physikalische Revolution des 21. Jahrhunderts. Da muss wohl in der Relativitätstheorie und in der Quantenmechanik einiges nachgebessert werden.
Noch ganz schockiert von dieser Erkenntnis fasse ich ein Atom an XYs Körper an. Es fühlt sich seltsam glitschig an, als ob es keine Oberfläche hätte. Trotzdem lässt es sich kaum zusammendrücken. Es sieht aus wie eine leicht gefärbte Milchglaskugel. So wenigstens gibt es der Superstringwellen-Umwandler in meiner Brille an mich weiter.
Jetzt endlich hält XY den Zeitpunkt für gegeben, sich vorzustellen. „Wie ich vorhin schon andeutete, bin ich hier eine Sonderanfertigung. Sie waren angekündigt und bei mir sind sämtliche Eigenschaften einprogrammiert, die ich benötige, um sie hier kompetent betreuen zu können. Dazu gehören auch die Informationen, die ich jetzt an Sie weiter gebe. Zur Speichererweiterung wurden einige Spezialeiweiße und anderes Zubehör benötigt, die alle in meinem Inneren eingebaut wurden. Darum bin ich um soviel voluminöser als die anderen Enzyme. Das Programm dazu kam direkt aus der Hauptzentrale. Ihr Besuch war angemeldet. Da aber Ihr Weg im Blutstrom nicht gesteuert werden konnte, war es reiner Zufall, wo Sie landen würden. Deshalb haben alle Zellen im Imperium die gleiche Order erhalten, so dass jetzt dort an allen Zelleneingängen noch vergebens Kopien von mir auf Sie warten. Wenn Sie wieder draußen sind, werden wir alle demontiert und unsere Einzelteile anderwärtig verwendet.“
Die Segel an den Stiefeln sind sicher eine große Hilfe, aber trotzdem habe ich ganz schön zu tun, mich durch diese Zellenbrühe hindurchzuarbeiten. Und nun sind wir an unserem ersten Ziel, der Zentrale oder den Zellkern, angekommen. Er hat sichtlich eine feste Hülle, und die leicht gewölbte Form seiner Außenwände lässt auf eine beträchtliche Größe schließen. Ich kann nur einen kleinen Teil davon vor mir erkennen.
Um mich herum wie überall dichte Geschäftigkeit. Trotzdem kann ich erkennen, dass von Enzymen Gegenstände durch kleine Öffnungen der Hülle in den Kern befördert werden, während andere dort etwas entnehmen.  Aber nun gibt es eine Enttäuschung, denn den Zellkern darf ich nicht betreten. XY erklärt mir, nur Versorgungs- und Instandhaltungspersonal hätte hier Zutritt. Nur durch eine etwas größere Öffnung kann ich hinein schauen. Die trübe Flüssigkeit im Inneren lässt mir nur ein kleines Sichtfeld. Das einzige, was ich erkennen kann, ist ein Etwas, das wie ein Stück eines liederlich gewickelten Wollknäuels aussieht. Aber XY hält mir nun wieder einen regelrechten Vortrag: „Vorhin am Eingang habe ich kurz von der Hauptzentrale des Imperiums gesprochen. Hier ist nun der Ort, es Ihnen genauer zu erklären. Der Zellkern enthält als Hauptbestandteil die DNA. Hinter dieser Formel verbirgt sich ein komplizierter Ausdruck. Sie haben eben durch das Fensterchen ein kleines Stück davon sehen können. Es ist ein Riesenmolekül, das ausgestreckt entfernt an eine Doppelwendelleiter erinnert, die ungefähr 200 Kilometer lang ist. Hier im Kern ist es eingerollt gelagert.
Die DNA ist das wichtigste Molekül im Imperium. Hier sind der Bauplan und die Erbeigenschaften des Imperiums genauestens gespeichert. Dazu gehören die bis ins kleinste Detail genauen Bau- und Funktionspläne für alle Organe und andere Funktionsträger bis hinunter zu jeder einzelnen Zelle. Der Hauptsitz der DNA aber ist die Hauptzentrale. Sie ist ein großes Organ und nennt sich Gehirn. Von dort aus wird das ganze Imperium gesteuert, wobei jede Zelle erreichbar ist. Die Verbindungsleitungen, die hierfür benötigt werden, nennen sich Nerven, und die Informationsübertragung erfolgt durch feinste bis auf jede Zelle genau abgestimmte elektrische Ströme. Wie es die unzähligen Einzelobjekte erkennen kann, berichte ich Ihnen bei den Ribosomen.“ Er macht eine kurze Pause. Offensichtlich sucht er eine andere Datei. „Der kleine Abschnitt der DNA, in dem auch die Daten unserer Zelle gespeichert sind, steht auch uns zur Verfügung. Es ist ein Plan mit allen Einzelheiten und nur nach ihm darf gearbeitet werden. Hier werden alle die für den Betrieb und Bestand der Firma notwendigen Funktionen und Anweisungen genauestens beschrieben, wie zum Beispiel Reparaturen und die Produktion der Spezialflüssigkeit. Die Anweisungen über das Wann und den Umfang der Lieferungen aber kommen direkt von der Hauptzentrale.
Nach einem kürzeren Weg - wir schwimmen ja gewissermaßen durch die Zelle - sind wir jetzt bei einem Mitochondrium angekommen. Es ist eines von den großen zeltartigen Gebilden, die mir schon auf dem Weg zum Kern aufgefallen waren. Es ist etwa 100 Meter lang und 40 Meter breit und scheint frei in der Zelle zu schweben. Befestigungen kann ich keine erkennen. XY öffnet einen Spalt in der Wand und lässt mich hineinschauen. Die Wände sehen innen aus wie mit sehr stark und unregelmäßig gefalteten Teppichen belegt, auf denen es von Enzymen wimmelt. Sie bearbeiten kleinere Gegenstände, verändern etwas daran und geben sie dann weiter. Diese Gegenstände werden von Enzymkolonnen von allen Seiten herangebracht, während andere Kolonnen deutlich kleinere Teilchen abtransportieren. Genau kann ich das alles aber leider nicht erkennen. XY klärt mich auf: „So sehen unsere Kraftwerke aus. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Größe sondern auch in der Arbeitsweise grundsätzlich von den Kraftwerken, die Sie bei Ihnen draußen haben. In Ihren Kraftwerken wird den Brennstoffen mittels Hitze ihre Energie schlagartig entnommen und dann verwertet“. Mehr weiß er nicht davon, aber er erklärt mir, dass es so in der Zelle nicht gehe, weil große Hitze hier alles zerstören würde. „Bei uns ist das eine sehr komplizierte Prozedur. Wir müssen viele verschiedene Arten von Brennstoffen verarbeiten, und jedes von ihnen wird in zum Teil zahlreichen und aufwendigen Operationsfolgen abgebaut. Ich werde Ihnen es an einem Beispiel erläutern“. Er nimmt ein einzeln herumschwebendes Teil und zeigt es mir. „Das ist fehlgeleitet, das sollte hier gar nicht herumschwimmen“. Es ist ein kleineres Teil, aber die Atome sind ziemlich regelmäßig angeordnet. „Das ist ein Traubenzuckermolekül. Es besteht aus 12 Wasserstoff-, 6 Sauerstoff- und 6 Kohlenstoffatomen. Man kann sie an den Farben unterscheiden, außerdem sind die Wasserstoffatome etwas kleiner. Das Molekül wurde draußen mit Hilfe von Energie zusammengefügt, die man vorher in kleinen Portionen dem Sonnenlicht entnommen hatte.“
Mehr weiß er davon nicht, und auch nicht, was Sonnenlicht ist. Der Begriff gehört aber zu seinem Programm und er fährt fort: „Dabei wurden die Atome etwas verändert. Bestandteile von ihnen, Elektronen genannt, wurden durch Zugabe einer jeweils sehr kleinen Quantität Sonnenlicht-Energie in einen höheren aber ihnen unbequemeren Spannungszustand versetzt, und dadurch das Atom gezwungen, sich in das Zuckermolekül einzufügen.
Und so ist ein energiereicher Stoff entstanden. Beim Abbau springen die Elektronen wieder zurück in bequemere Positionen und geben dabei ihre Energie wieder ab, die die Zelle dann zur Aufrechterhaltung ihrer zahllosen Funktionen verwendet. Dadurch wird das Atom energieärmer und seine Position im Molekül verändert. Es entsteht ein anderer Stoff, der etwas energieärmer ist“                                                
Und dann erklärt er weiter: „Diese Energie wird nun bei uns in mehr als zwanzig Schritten zu CO2 abgebaut. Das geht so: Enzym A erkennt das Traubenzuckermolekül an seiner Energieladung, seinem Energiepotential oder Spannung. Es entnimmt eine winzige Menge Energie, verwandelt dadurch den Zucker wie eben beschrieben in einen anderen Stoff, eine andere Verbindung, und gibt es sofort weiter. Enzym B erkennt wiederum den neuen Stoff mit dem verringerten Energiepotential und macht das Gleiche. Und so wird der Traubenzucker von Schritt zu Schritt verändert, verliert jedes Mal etwas Energie, und am Ende bleibt CO2 und Wasser übrig. Und jedes Mal wird ein anderes Enzym benötigt. Enzym A kann nur den ersten Schritt bearbeiten, Enzym B nur den Zweiten. Und so weiter. Das war das einfachste Beispiel. Alle anderen von uns verwendeten Brennstoffe sind komplizierter aufgebaut und die Verbrennung erfordert oft bedeutend mehr Schritte. Etwa die ersten zehn Schritte bei der Verbrennung des Traubenzuckers erfolgen an anderen Regionen der Zelle und ohne Sauerstoff. Erst hier wird auch Sauerstoff eingesetzt. Deswegen sagte ich vorhin, das Traubenzuckermolekül wäre fehlgeleitet. Das alles ist sehr vereinfacht und dadurch ungenau erklärt, aber eine genaue Beschreibung dieser sehr komplizierten Vorgänge würde später bei Ihnen viele Seiten füllen“.
Nach kurzer Pause fährt er fort. „Und so gibt es in der Zelle Tausende verschiedener Enzyme, die jeweils für eine bestimmte Aufgabe spezialisiert sind“.
Mehr darüber und wie Enzyme andere Teile erkennen und unterscheiden, das wird er mir bei den Ribosomen erklären.
Auf unseren Weg zu den Ribosomen, bei dem ich teilweise die Zellwand erkennen konnte, sind wir jetzt vor einer größeren Gruppe etwa 20 Meter großer runden Gebilden angekommen. Es sind die Produktionsstätten der Zelle. XY hält an einer von ihnen. Auch hier wimmelt es von Enzymen. Viele transportieren kleine verschiedenartig geformte Teile heran, die andere zu langen Ketten montieren. Auch hier ein ähnliches Bild wie vorhin bei den Mitochondrien, nur umgekehrt. Enzym A bekommt ein Teil und baut ein anderes an, Enzym B nimmt das neue Stück von Enzym B usw. So entsteht eine lange dünne Gliederkette, deren Ende ich nicht erkennen kann.
„Hier wird ein Eiweiß hergestellt“, sagt er, „und die Halbzeuge, welche eingebaut werden, sind zum größten Teile Aminosäuren. Es gibt hier in der Zelle viele verschiedene Eiweißarten, die alle  in Ribosomen montiert werden und dann ihre eigene Funktion haben. Auch wir Enzyme bestehen vor allem aus Aminosäuren, die bei uns aber anders angeordnet sind als im Eiweiß“. Ich möchte wissen, wie die Enzyme ihre Bauteile erkennen können. „Das ist sehr kompliziert“, antwortet XY, „ich hatte es bei den Mitochondrien schon angedeutet. Hier in meinem Programm ist auch das alles stark vereinfacht beschrieben. Die Enzyme zum Beispiel arbeiten im Prinzip wie dargestellt, ihre Funktionsweise. ist aber in Wirklichkeit bedeutend vielseitiger.  Alles was Sie hier sehen können sind Atome, die zu Molekülen zusammengeschlossen sind. Moleküle nennt man alle Körper, in denen mindestens zwei Atome chemisch miteinander verbunden sind. Viele Moleküle sind sehr einfach gebaut wie zum Beispiel die Wasser- und die CO2-Moleküle. Aminosäuren bestehen aus etwa 10 bis 25 Atomen. Wir Enzyme sind auch Moleküle, komplizierte Moleküle, denn wir bestehen aus etwa 100 bis zu mehr als eintausend Aminosäuren. Bei den Eiweißstoffen ist es ähnlich. Auch die DNS hat hier eine Sonderstellung. Sie ist das weitaus größte Molekül und enthält sehr viele Glieder. Davon gleich mehr. Jedes Atom und jedes Molekül enthält eine gewisse Menge Energie, sein Energiepotenzial, die nach außen hin als winzige spezifische Spannung auftritt. Und diese Spannung trägt es gewissermaßen als Erkennungsschild vor sich her. So erkennt Enzym A seine Aminosäure und weiß, dass es ein bestimmtes anderes Stück anbauen muss. Die beiden zusammenmontierten Teile haben wieder eine andere Spannung, die wiederum das Enzym B aktiviert und so weiter“. XY zeigt auf eine in Bau befindliche Eiweißkette: „Sie können es hier sehen. Wir verwenden etwa 20 verschieden Aminosäuren, die in unterschiedlicher Reihenfolge von der Zentrale genau gesteuert eingebaut werden. Und dabei ändert das Bauteil bei jedem Schritt seine Spannung. Und wenn die erstrebte Spannung erreicht ist, dann ist die Eiweißkette fertig. Mit seiner Spannung wird auch seine künftige Position und Funktion in der Zelle bestimmt. Und da es bei der Festlegung der Reihenfolge fast unendlich viele Möglichkeiten gibt, sind auch bei der Festlegung der Erkennungsschilder fast unendlich viele Möglichkeiten vorhanden. Bei uns Enzymen ist es ähnlich. Nur ist, wie ich vorhin schon sagte und wie Sie sehen können, die Lage der Aminosäuren eine andere. Die DNA ist dagegen ganz anders zusammengesetzt. Hier sind es nicht Aminosäuren sondern Nukleotide, die ihr ihre enorme Speicher- und Steuerungsfähigkeiten verleihen. Auch für die DNA fertigen wir Ersatzteile. Wir könnten hier sogar auf Anforderung eine komplette Kopie unserer DNA herstellen.“ Jetzt wechselt er wieder sein Programm. „Aus alledem ist ersichtlich, dass für alle Arbeiten wie das Verwerten von Brennmaterial und den Zusammenbau von Eiweißen, Enzymen und Nukleotiden einige Tausend verschiedener Enzyme benötigt werden und von denen jeweils wieder eine große Anzahl. Dazu kommt, dass die Enzyme für jeden Arbeitsschritt, also zum Beispiel den, ihr Teil zu erkennen, zu bearbeiten und weiter zu geben, nur etwa ein Zehntausendstel einer Sekunde benötigen. Auf diese Weise werden allein in unserer Zelle in jeder Sekunde viele Millionen Einzeloperationen durchgeführt. Das erscheint zuerst unglaublich, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass die Atome sehr klein sind. Könnte man sie in Einerreihe aufstellen, so würde man für einen Millimeter fast zehn Millionen Atome benötigen. Nähmen wir hier unsere einen Zentimeter großen Atome, so wäre die Kette 100 km lang. Und so sind die Enzyme für Sie draußen so winzig, dass selbst die Größten unter ihnen mit Ihren stärksten Mikroskopen gerade noch wahrnehmbar sind. Beim Eiweiß ist es ähnlich Damit sie ihre Funktionen ausführen können, werden die dünnen Eiweißstränge fast immer später an der vorgegebenen Stelle mit vielen anderen zusammengebaut. Und so brodelt es in jeder Zelle förmlich vor Aktivitäten. Jede Zelle ist komplizierter aufgebaut als bei Ihnen draußen hunderte Chemiewerke. Und jede Zelle ist irgendwo in einem Organ oder etwas Ähnlichem organisiert. Und alles wird gesteuert von der DNA in der Hauptzentrale, die über Nerven mit sehr fein abgestimmten elektrischen Strömen alles im Imperium bis zur kleinsten Zelle erreicht. Sie erkennt alle Empfänger an Ihrem Energiepotential, an ihrer Spannung, an ihren millionenfach unterschiedlichen Aushängeschildern. Und so ist es überall im Imperium, das Sie Ihren Körper nennen. Und das Ganze nennt sich Leben. Wenn man das alles durchdacht und wirklich erkannt hat, dann bleibt nur Staunen, Staunen und sich wundern“.
XY hat seinen Monolog beendet. Der Rückweg war relativ kurz. Wir sind am Zellenausgang. XY zeigt auf ein kleines Enzym: „Das dort ist darauf spezialisiert, den Sauerstoff Molekül für Molekül anzunehmen und sofort weiter zu geben, damit es zu den Ribosomen transportiert werden kann. Hier und an den anderen Eingängen stehen zusammen mehrere Tausend von Ihnen. Und so ist es auch mit allen anderen Enzymen, die hier eine Aufgabe haben. Und alles vollzieht sich mit unfassbar hoher Geschwindigkeit. Aber es ist so weit. Nach einem kurzen Abschied, auch er ist in seinem Programm, schiebt er mich in eine Vene, die mich zurückschleusen wird.

Epilog

Ich bin wieder zurück. Draußen, wie XY es immer nannte. Körperlich gesund und munter. Geistig auch, allerdings mit einer kleinen Einschränkung. Ich habe ein Loch in meinem Gedächtnis. An die Zeit im Körper kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass ich in die Minimierkabine gegangen bin. Dort muss ich eingeschlafen sein. Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf dem gleichen Hocker. Zum Glück hat das Diktiergerät auf dieser Reise nicht gelitten. Alles, auch die etwas quäkende Stimme von XY, ist gut zu verstehen. Für den Bericht hat es allemal gereicht. Bald wird er veröffentlicht. Und XY wartet auf seine Demontage. Wartet er wirklich noch oder ist er schon demontiert? Er war ja nur ein Enzym, ausgestopft mit organischer Elektronik. Er war nur ein Roboter, der sein Programm abgespielt hat. Von Seele, von Gefühlen keine Spur. Aber er hat seine Sache gut gemacht! Ich werde ihn als angenehmen Begleiter bei dieser ungewöhnlichen Reise in Erinnerung behalten. Und wir haben nun auf dieser Reise einen Eindruck von dem gewonnen, wie ungeheuer vielfältig sich  das Leben in einer kleinen Zelle zeigt. XY sprach am Ende vom Staunen und sich wundern.
Denken wir weiter nach und übertragen das alles auf uns, auf den ganzen Menschen. Nehmen wir ein Beispiel. Einem Spieler wird ein Ball zugeworfen. Er fixiert den Werfer, erfasst etwa die Flugrichtung des Balles. Sein Körper beginnt sich zu strecken, während er einem kleinen Schritt zur Seite macht. Seine Arme heben sich, die Hände öffnen sich etwa halb. Er ergreift den Ball genau im richtigen Moment und im Bruchteil einer Sekunde.
Überlegen wir nun, was dabei im Körper dabei passiert. Vergessen wir dabei nicht, dass wir aus einzelnen Zellen bestehen, die je nach Aufgabenbereich zum Teil sehr verschieden konstruiert sind. Alle aber haben mit unserer besuchten Zelle gemeinsam, dass sie autonome Dienstleistungsbetriebe sind, die eine Leistung, sei es materiell (Organ), sei es funktionell (Muskel), auf Anweisung ausführen, die sich aber  selbstständig erhalten und dafür mit den notwendigen Rohstoffen beliefert werden. Die Augen, die Sehzellen der Netzhaut, erfassen das Bild einzeln Punkt für Punkt und wandeln diese Lichtquanten in elektrische Impulse um, die wiederum über Nerven an einzelne aber milliardenfach verbundene Zellen im Gehirn verteilt werden. Hier wird das Bild wieder zusammengesetzt und ist nun dem Spieler bewusst. In der Zwischenzeit werden über das Netzwerk im Gehirn Speicher- und viele andere Zellen aufgerufen. Das Bild wird analysiert und blitzschnell ein Programm erarbeitet, das sofort anläuft. Viele Milliarden von fein differenzierten Befehlen werden jetzt durch den Körper gesandt und erreichen genau den richtigen Muskel, die Muskeln im Oberschenkel wie auch die am kleinen Finger. Jeder einzelne Muskel, jede einzelne Zelle erhält so genaue Anweisungen, wie weit, wie schnell und mit welcher Kraft sie sich strecken oder lösen soll. Und so entstehen die fein abgestimmten Bewegungen des Körpers, die zum Schluss zum Erfolg, zum Fangen des Balles führen. Und alles geschieht in weniger als einer Sekunde. Aber dann folgt ja schon die nächste Bewegung. Und dann die Nächste. Fast unaufhörlich den ganzen Tag über. Und wenn wir uns schlafend im Bett umdrehen, auch dann kommen  alle Befehle vom Gehirn. Der Ursprung für das alles liegt in dem Riesenmolekül, das wir DNA nennen, zu dem Mutter und Vater je die Hälfte zugegeben haben, und die den Aufbau des Körpers von der ersten Zellteilung an im Mutterleib steuert. Und diese DNA ist im Kern einer jeden Zelle eingebettet. Auseinander gerollt ist sie etwa zwei Meter lang aber so dünn, dass, könnten wir sie zu einem Würfel zusammenlegen, dieser nur eine Kantenlänge von etwa ein hundertstel Millimeter  hätte. Wenn wir die Dimension dieser unfassbaren Vielfalt, die in diesem Winzling gespeichert ist, richtig erkannt und verarbeitet haben, bleibt nur Ehrfurcht, Ehrfurcht vor dem unfassbaren Wunder der Evolution.
 

Anmerkung
Der Original-Text wurde von mir leicht überarbeitet.
Fred Lang

2 Kommentare:

  1. Eine außerordentliche, detailreiche Erörterung der komplexen Gegebenheiten von Einzelheiten des Stoffwechsels einer fiktiven Zelle. Laienverständlich, dennoch für die Zielgruppe vom Umfang her sehr fordernd - selbst mir als Biologe gelang es nur in mehreren Anläufen bis zum Ende zu kommen ...

    Hinsichtlich der Begriffe und mancher Beschreibungen noch folgendes:
    - *Verbrennung* könnte besser mit Abbau, Energiegewinnung oder Zerlegung in Grundbausteine beschrieben werden - es treten ja keine "Flammen" auf und das könnte Laien verwirren;
    - *Enzyme* sind mindestens aus zwei Bestandteilen aufgebaut um wirksam zu sein: Apo-Enzym, immer eine Proteinstruktur, und Co-Enzym, eine beliebige chemische Substanz. Letztere bewirkt eine Formveränderung des Moleküls, wodurch chemische Aktivierung eines *aktiven Zentrums* und Weiterverarbeitung ermöglicht wird ... das führt zu
    - dem Begriff *Ladung* und der vermuteten Affinität , hier fehlt m.E. der Begriff der ribosomalen Kettenbildung als Kopie der in der DNA vorgegebenen Struktur.
    - die Erklärung '.. sei es materiell (Organ), sei es funktionell (Muskel) ..' schafft eine Unterscheidung die nicht den Tatsachen entspricht - es werden molekulare Funktionen mit physiologischen Funktionen und umgekehrt vermischt, wofür es keine tatsächliche Entsprechung gibt.

    Trotz dieser Anmerkungen:
    Ein bemerkenswertes Elaborat, das hoffentlich gebührende Aufmerksamkeit erhalten wird.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Moin Wolfgang,
      du hast natürlich mit deiner "Sicht der Dinge" hinsichtlich der Begriffe und mancher Beschreibungen recht. Ich denke aber auch, dass es dem Autor vor allem wichtig war, was er als Fazit in seinem Epilog schreibt: "Wenn wir die Dimension dieser unfassbaren Vielfalt, die in diesem Winzling gespeichert ist, richtig erkannt und verarbeitet haben, bleibt nur Ehrfurcht, Ehrfurcht vor dem unfassbaren Wunder der Evolution."

      Löschen

Vielen Dank für Ihren Kommentar!