20.5.24

Der Mann am Fenster

Dr. Schräg am Apparat!

Anruferin: Hallo!

Dr. Schräg: Guten Tag!

Anruferin: Wer ist da?

Dr. Schräg: Dr. Schräg am Apparat. Was kann ich für Sie tun?

Anruferin: Da steht immer ein Mann!

Dr. Schräg: Aha! Wo steht denn der Mann und was macht er?

Anruferin: Er steht im Haus gegenüber am offenen Fenster und machen tut er nichts.

Dr. Schräg: Er steht am Fenster und macht nichts.

Anruferin: Er schaut nur.

Dr. Schräg: Wohin schaut er denn?

Anruferin: Er schaut mich an.

Dr. Schräg: Er steht also nur da und schaut Sie an. Können Sie ihn beschreiben? Wie sieht er denn aus und was hat er an?

Anruferin: Er schaut irgendwie merkwürdig. So, als ob er auf etwas wartet. Er hat ein weißes Unterhemd an, aber was er sonst noch trägt kann ich leider nicht sehen.

Dr. Schräg: Bitte entschuldigen Sie die Frage, aber Sie sind vollständig angezogen?

Anruferin: Natürlich! Was denken Sie denn, ich bin eine anständige Frau und zeige mich nicht halbnackt.

Dr. Schräg: Aber Sie stehen doch auch am Fenster und schauen hinüber.

Anruferin: Ja, aber …

Dr. Schräg: Der Mann steht also in seiner Wohnung am Fenster und schaut Sie an. Und Sie stehen auch am Fenster und schauen ihn an. Ist das richtig?

Anruferin: Ja, das stimmt.

Dr. Schräg: Jeder Mensch kann einen anderen Menschen anschauen. Das ist nicht verboten. Es sei denn, man verletzt seine Privatsphäre. Wie zum Beispiel ein Voyeur, ein Spanner.

Anruferin: Der Mann steht aber immer da, Tag und Nacht!

Dr. Schräg: Habe ich richtig gehört, er steht Tag und Nacht am Fenster?

Anruferin: Na ja, fast immer. Er muss ja auch mal …

Dr. Schräg: Sie meinen, er muss auch mal essen oder schlafen.

Anruferin: Genau! Und er muss sicher auch gelegentlich auf die Toilette.

Dr. Schräg: Also, ich verstehe Ihr Problem immer noch nicht. Was irritiert Sie denn so an dem Mann? Schauen Sie doch einfach nicht mehr hin.

Anruferin: Das sagt mein Mann auch. Ich soll einfach nicht mehr hinschauen.

Dr. Schräg: Damit hat er vollkommen Recht.

Anruferin: Das kann ja sein, aber es geht nicht.

Dr. Schräg: Es geht nicht?

Anruferin: Nein, weil der Mann seit heute morgen viel höher steht, wahrscheinlich steht er auf einer Trittleiter.

Dr. Schräg: Er steht auf einer Leiter, sagen Sie. Wie weit ist es eigentlich bis zu ihm?

Anruferin: Na ja, so ungefähr 10 Meter. Ich kann übrigens jetzt sehen, dass er nur ein weißes Unterhemd trägt und sonst nichts.

Dr. Schräg: Aha! Er ist also ein Exhibitionist und Sie erliegen nun dem ganz natürlichen Reflex der Neugierde.

Anruferin: Na ja, ich habe ihm jedenfalls vorhin zugewinkt und gelacht.

Dr. Schräg: Das ist doch schön. Es beweist Ihre Toleranz diesem psychisch kranken Menschen gegenüber.

Anruferin: Leider hat das dem Mann aber überhaupt nicht gefallen. Er hat sich gleich umgedreht und jetzt sehe ich ihn nur noch von hinten.

Dr. Schräg: Das ist aber ziemlich unhöflich von ihm, finde ich.

Anruferin: Das denke ich auch und ich möchte, dass er sich mir wieder von vorne zeigt. Haben Sie vielleicht einen Rat für mich, was ich da machen kann? Von vorne ist er nämlich viel schöner anzusehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Dr. Schräg: Sie glauben gar nicht, was ich bei meinem Beruf alles verstehen muss. Also, da könnte ich Ihnen ...

Anruferin: Herr Doktor! Doktor Schräg! Jetzt hat der Mann plötzlich einen Strick in der Hand und fummelt damit rum.

Dr. Schräg: Er hat einen Strick und er fummelt rum?

Anruferin: Ja, er hat am Ende eine Schlinge geknotet und nun legt er sie sich um den Hals und … oh mein Gott, er will sich doch nicht … Nein! Das ist ja furchtbar! Was mache ich jetzt bloß?

Dr. Schräg: Ich wiederhole meinen Rat. Schauen Sie einfach nicht mehr hin.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für Ihren Kommentar!